Als ich das Wort Kamishibai zum ersten Mal hörte, konnte ich mir nicht gleich etwas darunter vorstellen. Der Begriff stammt aus dem Japanischen und lässt sich wörtlich als Papiertheater übersetzen. Kamishibai blickt auf eine lange Tradition zurück, hat sich jedoch vor allem in den letzten Jahren zu einer weit verbreiteten Form des Geschichtenerzählens entwickelt. In diesem Text stelle ich Kamishibai in seiner heutigen, vielfältigen Praxis vor und berichte von Beispielen vor allem aus Deutschland. Darüber hinaus werden Ideen vorgestellt, wie Kamishibai als pädagogisches Hilfsmittel in der Arbeit mit Kindern bis etwa 10 Jahren sowie in Bibliotheken auch Mehrsprachigkeit fördern kann.
Die Ursprünge der traditionellen japanischen Erzählkunst lassen sich über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Eine besondere Popularität erfuhr Kamishibai in Japan vor etwa 100 Jahren als beliebte Form der Unterhaltung auf öffentlichen Plätzen. Die Geschichtenerzähler transportierten mit ihren Fahrrädern kleine Holzbühnen, mit denen sie die Bildkarten ihrer Erzählungen präsentierten. Ihr Publikum bestand größtenteils aus Kindern, Einnahmen erzielten sie vor allem durch das Verkaufen von Süßigkeiten.
Seit damals hat sich viel verändert und dennoch erfreut sich Kamishibai aktuell immer größerer Beliebtheit. Kamishibai wird im Deutschen oft als Erzähltheater bezeichnet. Für das Aufführen einer Geschichte braucht es nicht mehr als mindestens ein oder eine Geschichtenerzähler*in, einen kleinen Kasten, der meistens aus Holz gebaut ist und Papierbilder, die nacheinander in die Holzbühne eingeschoben werden. Durch das kompakte Format ist es möglich, Vorführungen an verschiedensten Orten aufzubauen. Die Einfachheit des rein analogen Erzählens, die räumliche Flexibilität, aber auch die starke visuelle Komponente der Bilder sind einige der Gründe, weshalb Kamishibai auf immer größeres Interesse stößt. Richtet man den Blick auf Deutschland, findet man inzwischen unzählige Projektbeispiele, wie Kamishibai in Kindergärten, Grundschulen und Bibliotheken eingesetzt wird. Es gibt verschiedene Vereine wie beispielsweise „Forum Kamishibai“ in Frankfurt am Main, die unter anderem Vorträge und Weiterbildungen zum Thema anbieten. In den öffentlichen Bibliotheken von Schleswig-Holstein wird Kamishibai unter anderem zur Leseförderung seit Jahren eingesetzt. Die dabei gesammelten Erfahrungen fasste Susanne Brandt in einem Aufsatz zusammen. Die Lese- und Literaturpädagogin Annette Huber gibt in ihrem Text „Mit Bildern erzählen – das japanische Papiertheater Kamishibai“ aus dem letzten Jahr einen fundierten Überblick über die verschiedenen Formen des Kamishibais in Japans, sowie eine kritische Einschätzung der Adaption und Entwicklung der Erzähltechnik in Deutschland während der letzten Jahre.
Mit Hilfe des Kamishibai erweitert sich der Wortschatz
Doch wie kann man sich das Geschichten erzählen mit Kamishibai aneignen und in der eigenen Arbeit in den Bereichen Pädagogik und Sprachförderung anwenden? Neben der Bühne, die aus Holz oder Karton selbst gebaut kann, lassen sich auch die Bildkarten als A3-Format selbst gestalten. Es gibt aber auch immer mehr Verlage, wie etwa im deutschsprachigen Raum, die gedruckte Kamishibai-Kartensets anbieten. Die Auswahl ist groß und reicht thematisch von Märchen über Sachbücher bis hin zu aktueller Kinderliteratur. Die Bildkartensets von Verlagen umfassen fertige Erzählvorlagen, auf die man zurückgreifen kann. Es lassen sich aber auch sonst vielfältige Anleitungen finden, die das Vortragen von Geschichten mit Kamishibai erklären. Es wird unbedingt dazu ermutigt, den Erzähltext gründlich vorzubereiten, um bei der Vorführung so frei wie möglich sprechen zu können. Der Erzähler oder die Erzählerin positionieren sich neben der Holzbühne mit Blick auf das Publikum und richten ihre Erzählung an den jeweiligen Bildern aus.
Auch darin liegt eine der Stärken von Kamishibai. Dieses so genannte bildgestützte Erzählen bietet die Möglichkeit, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern den Wortschatz des Publikums zu erweitern. Unbekannte Wörter können mithilfe der visuellen Darstellungen inhaltlich leichter erschlossen und damit der Spracherwerb unterstützt werden. Auch deswegen eignet sich das Erzähltheater für eine Zuhörerschaft, die die Erzählsprache noch nicht fließend beherrscht. Diese Form der Sprachförderung macht Kamishibai attraktiv für Bibliotheken, wenn ein mehrsprachiges Publikum erreicht werden soll, oder kann mit mehrsprachigen Gruppen im Schul- oder Kindergartenkontext genutzt werden. Ein konkretes Beispiel ist der Einsatz von Kamishibai mit zwei Erzähler*innen, die die Geschichte anhand der Bildkarten zweisprachig vortragen. Diese Vorführungen können die Kenntnisse der eigenen Muttersprache, aber auch die Aneignung einer zweiten Sprache fördern. Ein weiteres Beispiel sind Bildkartensets, die Mehrsprachigkeit als Thema aufgreifen und Wörter in mehreren Sprachen als Teil der Geschichte vorstellen. Ziel des Einsatzes von Kamishibai ist in diesen Fällen die Förderung von Sprach- und Lesekompetenzen. Darüber hinaus lässt sich Kamishibai auf vielfältige Weise nutzen. Es lässt sich leicht mit Musik kombinieren oder für bildnerisches Gestalten nutzen. Das künstlerische Gestalten von Bildern im Zusammenhang mit Kamishibai ist leicht umzusetzen. Auch das Erarbeiten, Gestalten sowie Aufführen von eigenen Geschichten, beispielsweise im Unterricht, kann die Sprachkompetenzen von Kindern fördern.
Die räumliche Nähe zur Bühne und das kleine Bildformat prägen die Atmosphäre des Geschichtenerzählens grundlegend. Auch die Bilder fördern eine besondere Konzentration beim Zuhören der Geschichte. Der Kontakt zum Publikum, die Körpersprache, aber auch der Sprachausdruck sind beim Erzählen entscheidend. Diese Nähe zwischen Erzähler*innen und Publikum kann im besten Fall zu einer Form dialogischen Erzählens einladen. Das Erzählen wird dabei teilweise unterbrochen, um Fragen zu stellen oder bestimmte Details auf den Bildern anzusprechen. Das Publikum wird dazu ermutigt, das Gesehene zu beschreiben, zu kommentieren oder die Geschichte weiter zu erzählen.
Schon die wenigen Erfahrungen, die ich mit Kamishibai sammeln durfte, zeigten mir, dass es noch unendliche Möglichkeiten gibt, diese Art des Geschichtenerzählens anzuwenden und weiter zu entdecken. Die visuelle Kraft der Bilder, aber auch die unmittelbare Nähe des Erzählens machen für mich den besonderen Reiz dieser Erzähltechnik aus.
Julia Kartesalo lebt seit acht Jahren in Helsinki und arbeitet freiberuflich als Kulturmanagerin und Kunstvermittlerin. Kamishibai lernte sie während eines Projekts zum Thema Mehrsprachigkeit und Kinderliteratur in der Bibliothek des Goethe-Instituts Finnland 2022 kennen und hat seitdem mehrere Workshops und Kurse für Kinder sowie Erwachsene geleitet.
Quellen:
Brandt, Susanne (2016), „Neues Leben für ein altes Medium – Kamishibais in Bibliotheken vielfältig und fantasievoll nutzen und weiterentwickeln. Ein Erfahrungsbericht aus vier Jahren Kamishibai-Praxis in den Büchereien von Schleswig-Holstein“ in: Zeitschrift Bibliothek Forschung und Praxis https://doi.org/10.1515/bfp-2016-0008 (abgerufen am 26.02.2024)
Huber, Annette (2023), „Mit Bildern erzählen – das japanische Bildertheater Kamishibai“ in: Jochen Heins, Christoph Jantzen, Nicole Masanek, Philipp Schmerheim (Hrsg.): „Jenseits der Mediengrenzen – Medienübergreifendes Erzählen für Kinder in didaktischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive“, Verlag Königshausen & Neumann https://verlag.koenigshausen-neumann.de/oaopen/83962 (abgerufen am 26.02.2024)
Forum Kamishibai, Frankfurt am Main https://forum-kamishibai.de/das-forum/unsere-publikationen/ (abgerufen am 26.02.2024)
Goethe-Institut Finnland